Till Lindemann – Zunge (CD-Kritik)

Till LindemannReden wir über Sexualität in der Musik. Tocotronic sagten bekanntermaßen, dass man über Sex nur auf Englisch singen könnte, und nicht selten stimmt das auch, was vor allem der Wurschtigkeit der deutschen Sprache geschuldet ist. Hin und wieder jedoch kann es gelingen, wie Tocotronic höchstselbst mehrfach bewiesen haben. Jemand anderes, der das durchaus kann, ist Till Lindemann – als Beispiel nähme man „Frühling in Paris“ von Rammstein, welches in seiner Gänze eine zärtlich-sinnliche Umschreibung für Sex zwischen einem jungen nervösen Mann und einer Prosti- tuierten ist.

Till Lindemann hatte kein einfaches Jahr. Denn das offene Geheimnis, dass die Sexualität, die er gern praktiziert, wenig mit Sinnlichkeit zu tun hat, sondern sich häufig innerhalb weniger Minuten mit anonymen, nach einem Äußerlichkeitsschema ausgesuchten Frauen abspielt, detonierte im vergangenen Sommer durch die Presse. Von der Hexenjagd samt Vergewaltigungsanschuldi- gungen ist nach den eingestellten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wenig übrig geblieben, juristisch ist Till Lindemann völlig unbefleckt. Was bleibt, ist der Fakt, dass für Lindemann der quasi anonyme, bedeutungslose Sex nach Art der Kuhbesamung auch inhaltlich eine große Rolle spielt. Nicht zuletzt zeigte er selbst auf seiner Tournee mit Peter Tägtgren im Jahr 2020 vor ausverkauften Clubs Videos, die ihn zwischen zwei Songs bei einem Rammstein-Konzert backstage mit zwei weiblichen Fans zeigen, von denen er sich oral befriedigen lässt, um danach auf die Bühne zurückzukehren und vor 50.000 Zuschauern den nächsten Titel anzustimmen. Auch die Lyrik Lindemanns strotzt vor sexuellen Anspielungen, die wenig Wert auf Sinnlichkeit legen und sich weitestgehend auf den physischen Akt beschränken – siehe dazu meine Rezension zum Buch „100 Gedichte“. „Die Liebe ist ein Zeitvertreib, man nimmt dazu den Unterleib“, textete Erich Kästner einst.

Ebenfalls betroffen von dem Presseskandal, der von moralischen Fragen nach den Grenzen der Legitimität beim Rockstar-Groupie-Verhältnis (schließlich lassen nicht wenige Bands ihre Tour- manager im Publikum Backstage-Pässe an junge Frauen verteilen) bald zu einer Kampagne gegen den ausgemachten Teufel Lindemann abrutschte und diverse Abmahnungen nach sich zog, war die Veröffentlichung des ersten Soloalbums von Till Lindemann. So erscheint „Zunge“ erstmalig im Selbstverlag, ohne die Promo- und Vertriebsabteilung von Universal. So fiel die Werbung für dieses Album vergleichsweise leise aus, und der einzige Kanal, auf dem die Platte physisch zu erwerben ist, ist der Rammstein-Shop.

Nun ist „Zunge“ also heimlich, still und leise auf den Markt geworfen worden und enthält ein Sammelsurium der Sauereien. Und hier kommen wir wieder zur Sexualität in der Musik: wie auf den vergangenen zwei Alben des Projekts von Till Lindemann mit Tägtgren geht es auch auf „Zunge“ primär um das Eine. Wo die Lindemann-Alben „Skills in Pills“ und „F&M“ hierbei jedoch mehr mit Ironie, Absurdität oder lyrischen Doppelbödigkeiten daherkamen, wird es auf „Zunge“ extrem körperlich. Fast jeder Song hält dem Hörer praktisch das Geschlechtsteil ins Gesicht. Viel Leib und wenig Seele bekommen wir auf dem ersten ganz eigenen Album des Rammstein-Sängers geboten. Es gibt vollgewichste Decken und Kotze im Proseccoglas („Nass“), „vollge- schissene Menschenhaut“ („Altes Fleisch“), und selbstverständlich werden auch dicke Frauen abgelutscht („Lecker“). Im Musikvideo zu „Zunge“ gibt sich der Protagonist der Vollständigkeit halber gleich selbst eine Magenspiegelung. Eine schwitzige Aura umgibt dieses Album, das meiste ist vor allem eins: ein bisschen eklig.

Vor allem aber Subtilität scheint dem Dichter Lindemann ein völliges Fremdwort zu sein. Wie besingt dieser Mann, mittlerweile sechzig Lenzen alt, ein Verhältnis zur Leiterin einer Tanzgruppe? Selbstverständlich: „Ich hab den Schwanz wieder drin in meiner Tanzlehrerin“. Die Vorzüge von Menschen, die regelmäßig Sport treiben? „Können einfach besser ficken.“ Sogar vor sich selbst macht der notgeile alte Hurenbock keinen Halt: „Ich find mich heiß, ich könnt mich ficken.“ Immerhin: letzteres ist eine von ganzen zwei Referenzen an den Mörder Buffalo Bill aus „Das Schweigen der Lämmer“ – die zweite liefert das bereits erwähnte „Lecker“ mit „Es reibe sich mit der Lotion ein“, wobei Lindemann selbige Lotion so überbetont in seinem charakteristischen Krummschief-Englisch intoniert, dass hier eine der besseren Pointen gelingt.

Sogar der Hidden Track, der etwa eine Minute nach dem Ende des letzten Songs „Selbst verliebt“ beginnt und die Form einer herrlich-dämlichen Après Ski-Nummer annimmt, geht es nur um das eine: „Ich rödel, rödel, rödel, ich rödel den ganzen Tag, ich ri-ra-rödel ständig, weil mir das Freude macht“ – Was Till Lindemann wohl unter Rödeln versteht? „Und wenn wir beide rödeln, weiß ich, wie Liebe schmeckt.“ Es wird ständig nur gebumst auf dieser Platte.

Ob man das jetzt für mehr oder weniger geschmackvoll hält angesichts dessen, was heute über die Row Zero bekannt ist, sei dahingestellt. Die Lyrik Lindemanns war schon immer stark sexualisiert – hier auf diesem Album kommt sie jedoch ein bisschen an die Grenze, was auch einem fehlenden Einfallsreichtum geschuldet ist. Wo das 2015er Lindemann-Album „Skills in Pills“ noch etwas sprachwitziger, dadaistischer und in der Themenwahl abstruser gelang, ist auf „Zunge“ Sex eigentlich nur noch ein regelmäßiger Akt der Reibung, der relativ wenig mit den Teilnehmenden zu tun hat und sich nur um das Stillen eines Triebs dreht. Nun ist schneller, unromantischer Sex vielleicht für ein paar Minuten vergnüglich, aber er ist auch schnell auserzählt. Sowohl der Witz als auch die Provokation dieses Gebarens, das 2020 mit dem Pornofilm „Till The End“ einen ersten Höhepunkt erreichte (haha) und im Grunde in der Pointe „Guckt mal, ich bin ein alter Sack und trotzdem ein geiler Stecher“ besteht, gehen eher früher als später verloren.

Wenn Till Lindemann nicht gerade damit beschäftigt ist, sein Glied herumzuschwenken und sich mit diversen Körperflüssigkeiten auseinanderzusetzen (und nahezu alle sind hier auf dem Album vertreten), verstecken sich inmitten dieses plumpen Irrsinns gelegentlich kleine Perlen. „Altes Fleisch“ beispielsweise klingt, als hätten OOMPH! als neuen Sänger nicht Den Schulz, sondern Lindemann engagiert – der Gitarrensound dieser zwar durchaus expliziten, aber reichhaltigen Nummer gemahnt schon sehr an die Braunschweiger. Gleichsam jedoch entfesselt Lindemann hier seinen Humor zur Abwechslung durchaus effektvoll, von einer Beschimpfung eines lyrischen Gegenübers verkehrt das Lied sich zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Älterwerden: „Ich war so schön, was ist geschehen?“

Auch „Sport frei“ ist zwar zuvorderst etwas blödelnd veranlagt, bauscht sich jedoch zu einer Kritik am Selbstoptimierungswahn auf und beschreibt die zunehmende Zerschundenheit des durch Leistungssport überstrapazierten Körpers, ohne dass das Resultat dies angemessen entlohnt: „Das Gold vom Siegerpodest sich nicht in Barren gießen lässt.“ Gerade aus dem Munde des ehemaligen Olympia-Anwärters Lindemann gelingt dieser Wandel von der kritiklosen Bejubelung hin zur Realisation der Konsequenzen durchaus effektvoll. „Du hast kein Herz“ ist ein klobiger Brecher mit famosem Refrain und romantischem Twist, wenn auch einige Zeilen etwas holprig geraten: „Du quälst Tiere und auch mich“ erinnert ein bisschen an die schludrigen Gedichte des Sängers: „Alle alle leiden Qual / Die Tiere nicht / Egal“. Trotzdem: Anspielstation fünf überzeugt mit schmetterndem Sprechgesang à la „FACK“ der bayerischen Kollegen von Eisbrecher und malt schöne böse Bilder.

Generell ist zu würdigen, dass das Album auch in den traditionell Industrial-rockigen Songs dezidiert anders klingt als die Hauptband des Berliners – der einzige Titel in dieser Sammlung, der problemlos auf einem Rammstein-Album landen könnte, ohne groß aufzufallen, ist die Powerballade „Übers Meer“ mit ihren naturalistischen Bildern, der epischen Orchestrierung und der metaphernreichen Schilderung eines Verlusts. Und auch „Alles für die Kinder“ hat soundtechnisch mit seiner starken Atmosphäre einiges zu bieten, wenn auch ein Crescendo oder ein Breakdown dem Song gut getan hätte – hier kann man ruhig mal darüber hinwegsehen, dass es in dem Songtext um absolut nichts geht. Diese Aneinanderreihung kleiner Horror-Klischees ist zweckmäßig, aber banal: „Hab keine Angst, wir spielen Schere Stein Papier“. Andererseits gibt es mit „Tanzlehrerin“ eine Tango-Nummer im Stil von „Ach so gern“, wenn auch diesmal weniger verheißungsvoll und dafür offensichtlicher – aber auch etwas langweiliger – versaut. Der Refrain liefert einen ganz guten Gag, der sich insbesondere in der Abwandlung am Schluss nochmal durchzusetzen weiß, aber viel mehr liefert der Text dann auch nicht. Dem Unterhaltungsfaktor schadet das jedoch nicht.

Auf dem manisch depressiv klingenden „Selbst verliebt“ hingegen erleben wir die stimmlichen Fähigkeiten Till Lindemanns in ungewohnter Rohheit, das Narziss-Wahn mit schrägem Humor kombiniert: der Sänger fabuliert darüber, sich mit sich selbst zu paaren, trächtig zu werden und einen Klon zu gebären. „Wenn jeder wäre so wie ich, schlechte Menschen gäb es nicht“, singt Lindemann, was gerade nach den Schlagzeilen der vergangenen Monate wie ein Mittelfinger an die Medienlandschaft anmutet. Dazu sei jedoch gesagt: Das Album war bereits lange vor dem Rummel um Anschuldigungen gegen Till Lindemann fertiggestellt worden.

Fazit: Lindemann solo ist experimenteller, allerdings auch erratischer – expliziter, aber nicht zwangsläufig poetischer. Es geht über Tisch und Bänke auf „Zunge“, vom wabernden Titeltrack bis hin zu den Bumsnummern zwischen Rock, Techno und Tango wird ein wenig kohäsives Wirrwarr über die Hörer geschickt, das in seinen besten Momenten durchaus Freude macht, aber in seiner Rauschhaftigkeit auch an Halbwertszeit einbüßt. Da ist dann insgesamt trotz aller Körperlichkeit und dem Singen über Schweiß, Haut und Fett, doch ein bisschen wenig Fleisch dran. Hätte Lindemann diese Texte bei einer Rammstein-Session mitgebracht, hätten ihn seine Kollegen zurück an den Schreibtisch geschickt, mit den Worten: „So, das machst du jetzt nochmal, und diesmal ordentlich.“ Und auch das Projekt Lindemann, das mit Tägtgrens Ausstieg 2020 endete, hatte dann doch noch mehr Asse im Ärmel als dieser Alleingang, da der Pain-Tüftler dem Humor der Band durch seine wilden, aber gleichsam groovigen Kompositionen etwas mehr Raum bieten konnte.

So bietet diese Platte zwar durchaus eine musikalische Bandbreite, aber kompositorische sowie textliche Meisterleistungen bleiben weitgehend aus. Lindemann steckt den Kopf (oder was auch immer) mal hier und mal dort hinein, wurschtelt ein bisschen herum, und auch wenn er keineswegs eine schlechte Leistung abliefert, so ist er auch bei weitem nicht auf der Höhe seines Schaffens. Ohne das Korrektiv einer Band um ihn herum verliert er sich insgesamt zu sehr in Banalitäten, und so bleibt „Zunge“ eben im Gesamten ganz nett, ohne ein Triumphzug zu sein, mit einigen fantastischen Nummern („Altes Fleisch“, „Du hast kein Herz“, „Übers Meer“), einigen mittelmäßigen Titeln – und diversen infantilen Späßen („Nass“, „Tanzlehrerin“, der Hidden Track). Die Gravitas und die Genauigkeit der Hauptband erreicht Lindemann nicht, aber Freude auf seiner Solotour dürfte das Publikum angesichts dieses Zirkus trotzdem haben.

Tracklist:

01 Zunge
02 Sport frei
03 Altes Fleisch
04 Übers Meer
05 Du hast kein Herz
06 Tanzlehrerin
07 Nass
08 Alles für die Kinder
09 Schweiss
10 Lecker
11 Selbst verliebt

VÖ: 03.11.2023
Genre: Rock
Label: Till Lindemann (Selbstverlag)

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