Till Lindemann – 100 Gedichte (Buchkritik)

Till LindemannAls Texter und Stimme von Rammstein und dessen leicht gestörten Halbbruders Lindemann leistet Till Lindemann seit Jahren großartige Arbeit. Texte wie „Steh auf“, „Deutschland“ und „Ach so gern“, um nur aktuellere Beispiele zu erwähnen, beeindrucken durch Handlungstwists, geschicktes Perspektivenspiel, perfekte Wortwahl und tiefgreifendem Subtext. Zuletzt jedoch fiel Till Lindemann als alternder Jugendlich- keitsbesoffener auf, mitsamt eigenem Kunstporno „TILL The End“. Die Provokation und die Fokussierung auf Sexualität sowie die Bedrohung einiger Darstel- lerinnen des Films durch Zuschauer überschatteten hier jegliche mögliche Diskussion über den durchaus vorhandenen künstlerischen Subtext.

Wie sieht es nun also aus, wenn Lindemann sich rein auf das Wort beschränkt? Mit „Messer“ (2005) und „In stillen Nächten“ (2013) gelangen ihm zwei interes- sante, teils beeindruckende Gedichtbände, deren Hauptknackpunkt jedoch vor allem die Rohheit war. Ungeschliffen, unperfekt, skizzenhaft, beiläufig. Vor allem in seinem ersten Band „Messer“ wirken die Texte teils stark ausgefeilt, während „In stillen Nächten“ mit viel kürzeren Texten aufwartet, die teils stark konzentriert und auf den Punkt gebracht wirken („In stillen Nächten weint ein Mann / weil er sich erinnern kann“) oder durch klare Pointen und trockenen Humor überzeugen („Ich konnte ihr einfach nichts abschlagen / bis zu jenem Tage / jetzt muss ich ins Gefängnis“). Zwischendrin immer mal wieder einige wenige Texte, die es tatsächlich zu einer musikalischen Umsetzung brachten. „Was ich liebe“, „Sautod“ und „Wenn Mutti spät zur Arbeit geht“ wurden respektive die Basis für die Songs „Was ich liebe“, „Waidmanns Heil“ und „Puppe“.

Nun liegt mit „100 Gedichte“ der dritte Lyrikband von Till Lindemann vor. Das titelgeb- ende Versprechen ist vielleicht schon der erste Haken dieses Buches. „Messer“ überzeugte damals auf etwa der Hälfte der Länge, dafür aber auf ganzer Linie. Bei „100 Gedichte“ kommt nun der Verdacht auf, dass hier wirklich alles zusammengeklaubt wurde. Seien es inhaltsschwache Bierdeckelnotizenreime à la „Alle alle leiden Qual / Die Tiere nicht / Egal“ oder teils hochspannende Miniatureindrücke des Seelenlebens des Protagonisten, gemischt mit naturalistischem Unterton (wie in „Undank“). Einige der Texte schaben hart an der Grenze zum Nonsense („Armer Bär“ ist völliger Stumpfsinn), ansonsten schleicht sich leider wenig überraschend viel Altherrenwitz und Ficki-Ficki-Humor ein. Gelegentlich wird da während der Kirchenmesse gefistet, oder auch mal der Struwwelpeter umgedichtet, wobei es zu diesen Zeilen kommt: „Nicht gewaschen ist der Pimmel / Alles alles stinkt zum Himmel“. Wozu man nun den Struwwelpeter in eine noch ekligere Gestalt verwandeln muss, weiß nur Lindemann selbst. Ebenso weiß wohl nur er, was der Text „Kunstopfer“ bitte sein soll. „Es lebte einst Herr Peter Pohl / Der war ein großer Künstler wohl“ – „Was jetzt kommt das ahnt ein jeder / Er stach sich selbst mit seiner Feder“. Die selbstgeißelnden Anleihen des Kunstschaffenden, der seine Arbeit zum Lebensinhalt macht, ist besonders in Bezug auf Lindemanns aktuelles Schaffen hochspannend – als mager poetische Heinz-Ehrhardt-Kopie bereitet das aber wenig Freude.

Rund die Hälfte des Buches hätte man rauskürzen können. Sei es um Texte wie das völlig sinnlose Fünfzeilerchen „Apfel“, das keinen Deut Erkenntnis enthält, oder „Aids“, das klingt wie eine Kopie meines Gedichtbands „schwarz“, den ich mit 14 schrieb, um wiederum Till Lindemann zu kopieren. Auch ein Text wie „Ausdruck“ beinhaltet nicht viel mehr als fetisch- und perversionsbeladenen Sex. Sex spielt wohl eine der Hauptrollen in diesem Buch. Lindemann schreibt ein Gedicht über Kaffee und lässt Folgendes nicht unerwähnt: „Dann / Bin ich ganz aufgeregt / Und dann ficke ich“ Dies führt bis zu dem Punkt, wo der letzte Text des Büchleins „Du stirbst bald“ fast schon einsichtig und selbstreflektiert wirkt. „Bist widerlich lebst ungesund / Du gehst vor der Zeit zu Grund“. Sobald ein Gedicht von Till Lindemann nach einer Obstsorte benannt ist, kann man es bedenkenlos überblättern. Neben „Apfel“ trifft das auch auf den Text „Banane“ zu, der in seinen vier Zeilen so unsinnig ist, dass auch Helge Schneider daran scheitern würde. Auch Zeilen wie folgende aus dem Gedicht „Kurz“ möchte ich nicht unerwähnt lassen: „Kurzer Penis, leider sehr / Kurze Hose, Holzgewehr“. Auch das Gedicht „Faust“ klingt mehr wie eine lose Material- sammlung. Wo zwischen „Faustrecht / Faustschlag Faustkampf / Faustan Faustfick / Fausthaus“ der Deutungsspielraum ist, ist mir schleierhaft.

Und dann aber gibt es diese Texte, die doch ein gewisses Unterhaltungspotential bieten. „Ich hatte Hunger“ ist eine amüsante Schilderung einer Komplikation bei der Jagd, witzig und mehr in Prosaform erzählt als in lyrischer. Einige der Gedichte in diesem Band wirken mehr wie Episoden, Anekdoten in Form von Prosa, so auch die Texte „Kopf hoch“ und „Toilette“, auch diese durchaus amüsant. Auch „Abschied vom geliebten Tier“ wirkt mehr wie eine sehr konzentrierte Kurzgeschichte mit spannendem Horror-Twist in den letzten Zeilen. Dann wird einem klar, dass man so etwas viel lieber lesen würde: Ein Buch voller Kurzgeschichten und Miniaturepisoden von Till. Anstelle dieser durch Plumpheit, Wieder- holung und Eindimensionalität geprägten Stücklein, von Lindemann auf kleiner Ideen- flamme zu einer Masse zerkocht, die sich ziemlich zieht. Und weil sich „100 Gedichte“ so zieht, vergisst man schnell, dass Lindemann hier und da einen winzigen introspektiven Text einstreut, kleine Funken von großer Tragik zünden lässt und hier und da tatsächlich hinter der Maske von Sexzentristik, Toilettenhumor und Nonsense hervorlugt, wobei sich die wahrhaftige Tiefe, Schönheit und Tristesse dieses Buches zeigt. Liest man, wie ich, diesen Band von vorn bis hinten komplett durch (dauert nicht lang, die meisten Texte haben eine einstellige Zeilenanzahl), ergibt sich das Bild eines traurigen Clowns, eines überzeichneten Schauspielers, der, sobald er mal nicht über die Bühnen tingelt, genauso an unerwiderter Liebe leidet und doch eigentlich nichts mehr als ein zarter Naturbursche ist.

Doch Gedichtbände liest man nie in einem durch. Man nimmt sie hin und wieder in die Hand, liest zwei, drei Textlein, dann legt man das Buch wieder zur Seite. Dafür ist „100 Gedichte“ nahezu komplett ungeeignet. In diesem Werk vereinen sich einfach zu viele Texte, als dass die wirklich guten unter den unzähligen mittelmäßigen bis hin zu den mehreren schlechten Gedichten kaum im Gedächtnis zu bleiben vermögen. Der Eindruck hält sich, Till Lindemann habe auf jede tolle Gedichtidee, die ihm kommt, etwa zwanzig schlechte. So ersäuft dieser Gedichtband sein eigenes Potential in seinem Übermaß. Ein Übermaß an Sex, ein Übermaß an flacher Witzigkeit, ein Übermaß an beiläufig hinge- worfenen, pointenbefreiten Gedankenluftblasen, an denen Lindemann selbst nach ein paar Versen die Lust verlor.

„Messer“ ist und bleibt der beste Gedichtband von Till Lindemann. Reduziert, aufgeputscht und mit Ideen, die den Autor offenkundig länger als fünf Zeilen interessierten. Für Till Lindemanns Gedichtbände gilt sowieso: Die besten Texte werden zu Rammstein– oder Lindemann-Songtexten. Der Rest ist nettes Beiwerk, eine Fülle an B-Seiten und Demo- versionen, um im Musikkosmos zu bleiben.

Fazit: „100 Gedichte“ von Till Lindemann enthält durchaus gute, teils sehr gut Texte, ist manchmal witzig, regt auch öfter zum Nachdenken an. Die Zahl der richtig guten Gedichte im Verhältnis zu den Blödeleien jenseits der Gürtellinie ist jedoch unbefriedigend. Es sei Till Lindemann gewünscht, dass er sein durchaus vorhandenes Talent als Lyriker auf einen Punkt fokussiert, sei es beim Texten für Musik seiner Bands oder, wie bei der Ausstellung „Wir überleben das Licht“ von Johan Tahon, als Begleitung zu anderen Kunstwerken (hierbei seien die exzellenten Karikaturen von Matthias Matthies erwähnt). Ohne diese Konzentration, geschwätzgeschwängert, in übermäßiger Menge und richtungslos liest sich „100 Gedichte“ über weite Strecken hierbei leider mehr wie die Klolektüre eines einsamen Mittvierzigers, der wieder und wieder erfolglos versucht, die um einiges jüngeren Gothic-Maiden im Darkflower abzuschleppen.

VÖ: 05.03.2020
Genre: Gedichtband
Verlag: Kiepenheuer & Witsch

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