Diorama – Tiny Missing Fragments (CD-Kritik)

DioramaDiorama sind back! Seit der Gründung im Jahr 1996 haben die Reutlinger nicht nur zahlreiche Konzerte und Festivals weltweit gespielt, sondern gelten auch als eine der innovativsten Instanzen der düsteren Musikszene. Vier Jahre nach dem letzten Output Zero Soldier Army (2016) melden sich die Dark Wave-Avantgardisten nun mit ihrem zehnten Studioalbum zurück.

Die gesamte Aura, die das neue Album von Diorama umweht, berichtet von künstlerischem Anspruch. Und auch beim Hören von „Tiny Missing Fragments“ lässt sich feststellen, dass wir es hier mit einer sehr besonderen Platte zu tun haben. Schon der Slowburner „Avatars“, der das zehnte Album der Band eröffnet, überzeugt durch enorme Stimmung. Ein tiefes Abtauchen in eine Welt, orchestriert von Diorama, visualisiert von Faizki, einem niederländischen Künstler, der für das Artwork einige exklusive Kunst- werke bereitstellte.

Auch „Patchwork“, eine der Singles, brilliert durch an Front 242 erinnernde Drums und spannende Loops. Auch erklärt sich im Refrain der Albumtitel „I’ve spent my lifetime looking like you, and now I’m finally home again – in my patchwork of uncountable tiny missing fragments“ – eine Art Zerhackstückelung, eine Unvollständigkeit des eigenen Seins. Noch interessanter wird es auf „Horizons“: „History is not repeating, at least not in the life we’re leading“ intoniert Torben Wendt, dessen Stimme auf diesen fabelhaften Arrangements einen wohlverdienten Platz findet. Der Text: bildreich, spannend, dystopisch – oder vielleicht in Zeiten, in denen die Grenze zwischen negativen Zukunftsvisionen und Realität immer mehr verschwimmt, hochaktuell.

Es folgt der erste Song, den Diorama-Fans aus „Tiny Missing Fragments“ zu hören bekom- men konnten – so wurde „Gasoline“ erstmals in einem Livestream-Konzert im April aufgeführt. Zusammen mit der Single „Dark Pitch“ bildete er den ersten Eindruck dieser besonderen Platte, und zwischen den beiden liegt eine spannende Differenz. Ersterer überzeugt durch schöne Melodien und Weitläufigkeit, während letzterer sperrig daher- kommt, mit 80er-Bass, eigenartigem Aufbau und dem einen oder anderen Gänsehaut-Effekt. Wo „Gasoline“ mit Textspielereien wie „You did nothing… wrong“ und wundervoll elek- tronischem Arrangement daherkommt, hat „Dark Pitch“ fast schon ein Einstürzende-Neubauten-Gefühl, unter anderem durch die Einführung eines Saxophons und die etwas ungemütlich stimmende Basslinie, dazu die knackenden Drums und das Vocal Layering, das eine Reaktion irgendwo zwischen Trance und Herzrasen hervorruft.

Auch „Charles De Gaulle“, das irgendwo zwischen frühen Depeche Mode-Synthies und fast industriell-technoiden Einschüben in ständiger Dissonanz funktioniert, ist ausgesprochen eigenartig und faszinierend. Enorm atmosphärisch und verworren, besonders, wenn plötzlich eine Art Jazz-Orgel auftaucht, spannt dieser Song den Hörer förmlich auf die Folter und zieht ihn in eine seltsame Schwärze hinab, die einen in „Counterloop“ entlässt. Mit wundervollen Harmonien und der anhaltend hohen Qualität der Arrangements, die komplex, verspielt und enorm vielseitig daherkommen, fühlt man sich, als sei man mutterseelenallein in einem Arcade-Automaten gefangen, hinter der Fassade, hinter dem Licht. „I’m a leader of a world in pieces.“

„Sensation“ ist wohl der bisher „poppigste“ Song auf dem Album – besonders die Bridge hat diesen sehr eingängigen Charakter, erzeugt durch wohlplatzierte Reime und stark rhythmisierten Halb-Sprechgesang. Doch wird die Stimmung sowie der beeindruckende Lauf dieser Platte damit nicht gebrochen, sondern erfolgreich erweitert. Auch „Irreversible“ beginnt mit einem ohrwurmig-zügigem Drumbeat, nur um dann die düstere Atmosphäre und sphärische Grundstimmung wieder aufzunehmen, die sich durch diese Platte zieht. Mit starker Melancholie, einem guten Level an Sehnsucht und wie mittlerweile bekannt tollen Sounds und großartigem Gesang – „And my unfinished dreams collapse into your nightfall.“

Mit „iIsland“ erwartet uns der bisher härteste Song der Platte, und bedient uns mit fast schon EBM-ähnlichen Sounds im Refrain. Hier kann tatsächlich mal getanzt werden, ohne dabei das Träumen zu vergessen, nur um im Refrain wieder aufgeweckt zu werden: „Get your brain straight!“ lautet die Aufforderung, während der Songtitel „iIsland“ hierbei auf die Produktreihe eines gewissen US-amerikanischen Technikkonzerns anspielt, und von der permanenten Ablenkung und der Entfremdung durch (a-)soziale Medien erzählt.

Der Titel von Anspielstation elf spricht für sich: „The Minimum“ kommt nicht nur durch minimalistischstes Ambiente, sondern ist auch der kürzeste Song auf dem Album. Hier und da hat man das Gefühl, dass sich auch die Stimme eines Peter Heppners gut auf dieser Nummer machen würde, doch Torben Wendt brilliert und beherrscht die emotionalisierte Leichtigkeit und Reduktion ausgezeichnet. Und das alles mündet nun im Closer „Orbitalia“ – auf dem sich schließlich noch einmal alles niederschlägt, was dieses Album so brillant machte. Das langsamere Tempo mit einigen sehr eigenartigen Klängen, hochspannenden Loops, einer guten Prise Minimalismus und dieser ganz gewissen Beklemmung, die „Tiny Missing Fragments“ im Ganzen umgibt. Und dann doch wieder – diese wundervollen Harmonien und Melodien zum Zudecken. Ab der Hälfte erfährt der Song dann einen Break, und schlägt in eine pianolastige Balladenkomposition um, die dann den Faden zum ersten Teil der Nummer aufnimmt. „And the orchestra moves on“ singt Torben, bevor das zehnte Diorama-Album mit einigen einsam im (Welt-)Raum stehenden, nachhallenden Sounds schließlich endet.

Fazit: Wo 2020 als Jahr ein ziemlicher Reinfall war, so sind die musikalischen Resultate doch zu großem Teil ausgesprochen erfreulich. Und „Tiny Missing Fragments“ ist zweifelsohne ein großer Wurf geworden, der fasziniert, mitnimmt, und auch nach mehreren Durchläufen nicht langweilig wird. Mit fast schon Yello-artiger Experimentierfreude und dennoch allgegen- wärtiger Dunkelheit kredenzt uns Torben Wendt einen weiteren Beweis für sein ungeheuer virtuoses Talent. Und Felix Marc hat neben „Gezeiten“ von Frozen Plasma nun auch in einem weiteren unheimlich brillanten Electro-Album voller Stimmung, Schwere, Tiefe und Beklemmung seine Finger im Spiel. Wer auf „Tiny Missing Fragments“ die großen Clubhits sucht, der ist völlig falsch aufgehoben – Diorama liefern mit Album Nummer 10 fast schon erhabene Unterhaltung, meditativ, voller Tiefgang, und mit Musik, die ungeheuer plastisch wirkt. Der Rezensent verneigt sich beseelt und gratuliert zu diesem runden, wohl gereiften und großartigen Werk.

Tracklist:

01 Avatars
02 Patchwork
03 Horizons
04 Gasoline
05 Dark Pitch
06 Charles De Gaulle
07 Counterloop
08 Sensation
09 Irreversable
10 iIsland
11 The Minimum
12 Orbitalia

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VÖ: 23.10.2020
Genre: Electro
Label: Accession/Indigo

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