Lindemann – Steh Auf (MCD-Kritik)

Wenn der Rammstein-Sänger Till Lindemann und das Pain-Brain Peter Tägtgren wieder als Lindemann gemeinsame Sache machen, ist die wandelnde Rammstein-Wikipedia in Form von mir natürlich nicht weit und schreibt wieder eine Rezension, deren Lesedauer die Gesamtlänge der 2-Track-Single um Längen überschreitet. Und es ist ja nicht wirklich so, dass ich im vergangenen Jahr nichts zu tun hatte. Neben dem neuen Album der nach wie vor international relevan- testen deutschen Band hat schließlich vor etwa zehn Monaten auch Richard Kruspe die neue Emigrate-Platte veröffentlicht. Und dann, ja, dann kam Lindemann. Er kam nicht allein, er hatte sich nämlich ausgerechnet Haftbefehl rangeholt, um sich mit ihm des Schulsystems anzunehmen. Zusammenfassung in vier Worten: „F***, f***, f*** Mathematik“.

Einige Leute hatten daraufhin Angst vor dem neuen Rammstein-Album, was sich als unbe- rechtigt herausstellte. Leute, die verschiedene Bandprojekte auseinanderhalten können, waren stattdessen skeptisch, was uns da jetzt seitens der Porno-Spielwiese von Till Lindemann und Peter Tägtgren erwartet. Lindemann ist ja angesetzt als Spaßprojekt, „Skills In Pills“ ist ein Partyalbum zwischen Tablettenmissbrauch und Sex mit allem, was nicht schnell genug wegrennen kann, weil es entweder zu dick zum Wegrennen ist („Fat“) oder der Protagonist zu Pferde hinterhergaloppiert („Cowboy“). Und was tun, wenn der Rudelbums dann doch Konsequenzen hat? „Praise Abort“! Ab 2018 wurde jedoch deutlich, dass da eventuell ein bisschen mehr bei rumkommen könnte. Zu verdanken haben wir dies der Tochter von Till, Nele, die ihren Vater heranzog, um die Thalia-Theater-Inszenierung von „Hänsel & Gretel“ musikalisch aufzuwerten. Auf einmal hießen die Songs „Blut“ oder „Knebel“, waren auf Deutsch, musikalisch wunderbar versatil und teilweise wirklich, wirklich gut.

Eineinhalb Jahre später, nach dem Trap-Ausflug, liefert das Dark Rock-Duo aus der Hölle nun die wahrhaftig erste Single zum zweiten Album. „Steh Auf“ machte einen Freitag, den 13., zu einem Glückstag. Der Sound klingt ausgereifter und raumgreifender, nicht so wie das sich teils im Metal-Matsch verlierende Albumdebüt. Hier knallt es anständig, fast schon OOMPH!-esk. Und Till in seiner Muttersprache mit Worten zaubern zu hören, ist immer noch wunderschön. Dabei fängt doch alles so harmlos an, mag man denken, wenn die erste Zeile „Heute ist ein schöner Tag“ lautet.

Trotz der deutschsprachigen Lyrics würde der Dreiminüter auf einem Rammstein-Oeuvre wohl keinen Platz finden. Soundtechnisch hebt es sich um einiges vom Mutterschiff ab, und auch Tills Sprache wirkt trotz gerollten Rs abseits des Rammstein-Duktus. Er kommt direkter daher, eindeutiger, und doch mit einer Tiefe, die eine dem innewohnende Dunkelheit erkennen lässt. Aus „Wenn das Blut die Tinte küsst“ wird „Hol mir Eis und Limonade“. Wer aber genau hinhört, merkt in diesen scheinbar leichtherzigen Zeilen schon etwas Flehendes. Wenn im Refrain dann „Steh auf! Steh wieder auf!“ geschrien wird, ahnt man Böses. Der Groschen fällt mindestens bei der dritten Strophe, allerspätestens bei dem Vocal Sample eines Kindes, das hörbar bewegt und traurig drängt: „Mama, steh auf, steh wieder auf!“

Das ist die wohl bisher beste Lindemann-Single. Drängend, druckvoll, düster, losgelöst von Rammstein spannend poetisch, und Till und Peter treiben einander diesmal wirklich auf Höchstleistungen. Hörte man über „Skills In Pills“ noch, das sei ja einfach Rammstein auf Englisch, kann man hier sagen: Das ist Lindemann in Deutsch! Ebenfalls richtig gut ist der Trivium Mix, der auf der Maxi-Single als B-Seite zu finden ist und dem Song eine fast meditative Wirkung gibt. Müsste man mich aus einem Koma aufwecken, so würde es dieses in klanglichen Echozwischenwelten wandelnde, Mantra-artige „Steh auf… steh wieder auf…“ des Remixes tun. Sobald ich dann wach bin, kann man mich gerne mit der Album-Version komplett zurück ins Leben kicken.

Fazit: Auf das zweite Lindemann-Album wird man sich mit Fug und Recht freuen dürfen. Neben den Hänsel & Gretel-Songs, die schon allein viele geniale Momente haben („Wer weiß das schon“, für die, die entweder das Theaterstück gesehen oder die YouTube-Aufnahmen gehört haben) wird es also nicht nur übertrieben und hier und da ein bisschen eklig. Nichts gegen Songs wie „Ladyboy“ oder „Golden Shower“, aber eindeutig ist, dass sich Till und Peter mittlerweile gut miteinander warmgespielt haben. Tägtgren braucht keine englischen Texte mehr von Till, um die Songs entsprechend instrumentieren zu können, und Till kann seinen kleinen Rammstein-Eskapismus noch eigenwilliger gestalten. „Frau und Mann“ erscheint am 22. November, und wenn „Steh Auf“ die Richtung vorgibt, dann wird es ein absolutes Fest der Sinne, sowohl für die Fans der ersten Platte, als auch für die, die „Skills In Pills“ nicht mochten.

Tracklist:

01 Steh auf
02 Steh auf (Trivium Mix)

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VÖ: 13.09.2019
Genre: Rock
Label: Universal/Vertigo

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