Kontrast – Unaufhaltsam (CD-Kritik)

Ach, was für ein schönes Album „Unaufhaltsam“ doch geworden ist! Das kann man schon einmal vorab zum neuen Werk der Gruppe Kontrast sagen. Elektronik und Melancholie, Großstadt- und Ostblockthematik, Mark Benecke mit Sprecher-Gastrolle, es ist viel Schönes dabei. Vor allem für ein Hauptstadtkind wie den Rezensenten ist es natürlich eine wunderbare Sache, den Plänterwald im Album wiederzufinden oder die Mischung aus Hymne und Abgesang auf das Nachtleben zu genießen. Aber fangen wir vorne an.

Schon „Unverwundbar“, der Opener der durch Crowdfunding finanzierten Platte, über- zeugt durch seichte Töne und einen tollen Text. Beginnend mit ein paar Klavieranschlägen fühlt man auch hier bereits eine gewisse Großstadtästhetik – „Routine nicht bunt, sondern monoton.“ Der Song thematisiert das Träumen, aber gleichzeitig auch die Verwundbarkeit des Wachseins. Wir sind nur in unseren Träumen sicher, „nur wenn du schläfst, bist du unverwundbar.“ Der Traum dient hier als Flucht aus dem drögen, repetitiven Alltag. Man ist nun also drin in der Thematik, somit hat der Opener schon mal seine wichtigste Aufgabe erfüllt. Als nächstes kommt jetzt das völlig brillante „John Schehr und Genossen“. Vertont wird hier das gleichnamige Gedicht von Erich Weinert, welches die Ermordung des KPD-Parteivorsitzenden John Schehr und dreier weiterer Kommunisten „auf der Flucht“ durch die Gestapo im Jahre 1934 erzählt. Wer in der DDR aufgewachsen ist, wird dieses Gedicht mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Schule kennen. Mit zwingendem Beat wird auf Grundlage des Texts wird ein fantastisch-düsteres Kopfkino erzeugt. Fast freut man sich ein bisschen, wenn „der General, der den Mord befahl“ am Ende die Abrechnung für „John Schehr und Genossen“ erhält.

Hiernach begeben wir uns in den Spreepark im „Plänterwald“. Der Song ist ein Duett und erzählt die Geschichte einer Ermordung am berühmten Riesenrad im heute brach- liegenden Freizeitpark. Die Frauenstimme übernimmt hierbei die Rolle der charismatisch-verführerischen Täterin, die jedes Jahr zum Riesenrad zurückkehrt und gesteht, dort ihr Herz verloren zu haben. Mehrfach wiederholt wird hier auch die Zeile „So kalt“, auf die wir später noch zurückkommen. Auch musikalisch ist dieser Song großartig, dunkel und spannend. Fast schon unheilige Melancholie kommt in der Kindheitserinnerung „Ostsee- kind“ auf. Und manche Zeilen – „Als Kind denkt man nicht an Vergänglichkeit“ – sind wirklich recht interessant. Zaghaft, in Erinnerungen schwelgend, bildreich, mit leichten Orchesterklängen im Hintergrund und einer die Synthies unterstreichenden Akustikgitarre. Ein, so muss man es sagen, schöner Song. Interessant wird es aber, wenn der Bogen zurück zum Plänterwald geschlagen wird: „So kalt“ ist ein Interlude, in dem niemand geringeres als der Berliner Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke von dem Fund einer Leiche berichtet, die im Spreepark gefunden wurde. Mehr ein Einschub als ein tatsächlicher Song, bekommt man hier doch Gänsehaut, wenn fast schon EBM-artige Schläge, die wie das Verdreschen eines Ambosses klingen, und ein leicht schief gestimmtes Piano in der zweiten Hälfte eine akustische Düsternis erzeugen, die ihrerseits das Kopfkino des Bezugssongs nur noch weiterspannt.

Danach geht es dann so richtig los. Mit tiefgepitchter Bösewichtenstimme, Atemgeräu- schen im Beat und ordentlichem EBM-Gestampfe kommen wir in den „Nachtclub“. „Ich tanz im Nachtclub der Monotonie – Nachtclub der Monotonie!“ Dieses dreiminütige Zwischengeballer wirkt so herrlich verdorben und elektronisch-kühl, dies ist keine Huldigung ans Partyleben, sondern eher eine Entmenschlichung und Maschinenwerdung der Tanzenden, eine Kondensation der drückenden Beats, sofort hat man als Urberliner Bilder von abgeranzten Zappelhallen voller schwitzender, verlorener Seelen im Hinterkopf. Geile Scheiße! Was nun klingt wie eine synthetisierte Zugfahrt in einer guten, alten Dampflok, ist der instrumentale Interlude „Weserbergland“. Hier verlassen wir nun die Berlin-Ästhetik, um in die Ferne zu reisen. Als überleitender Song fabelhaft, werden wir beim sehr kryptischen „Der Masterplan“ wieder ausgespuckt. Es wird klar, hier braut sich etwas zusammen. „Die Geschichte, die hinten beginnt und vorne endet“ ist hierbei noch einer der klareren Zeilen, bevor am Ende wissenschaftliche Begriffe, Ereignisse und Fakten aufgezählt werden, wie der Wasser-Kälte-Vergleich. Was es damit auf sich hat, erfahren wir nach dem Instrumental „Analoge Wellen“, das nach auf Bahnen schwingenden Elek- tronen, Radioübertragungen, kleinen Teilchen und weiten Reisen jener Wellen klingt. Energieübertragungen, scharwenzelnd schwirrende Synthies und eine Akustikgitarre. Wir landen nun in der Ukraine, an der Bar des „Hotel Polissya“. Hörspielartig und wie ein Noir-Film inklusive Cognac und Zigarre wird hier mit jazzigen Zwischentönen und Erzähler- stimmen die Geschichte der nuklearen Katastrophe in Tschernobyl aus Sicht eines Barbesuchers, der auf die radioaktive Welle wartet, geschildert wird. Ein hochinteressanter Einfall und eine brillante Umsetzung. Cool, bluesig und schläfrig, im Angesicht des Endes, apokayptisch und trotzdem lässig. Toller Song.

„Der Sarkophag“ setzt nach der Katastrophe an, erzählt von den Schäden, die die Radio- aktivität insbesondere bei den freiwilligen Helfern nach dem Reaktorunfall anrichtete. „Nur der Fortschritt vergöttert, als sei nichts gewesen“ ist hierbei eine hervorzuhebende Zeile. Im Auge der damaligen Hysterie wird hier die Geschichte tausender an einem Einzel- beispiel herübergebracht, bevor der Song in den Closer „Im Abendrot“ übergeht. Wie ein leise brummendes Gerät, eine leicht daneben klingende Abschiedsmelodie ins Leere klingend wirkt dieses Instrumental ein wenig postapokalyptisch. Eine Art letztes verbliebe- nes Signal, kein großes Tam-Tam, nur ein sich verlierendes, melancholisch-einsames Tuten, das langsam immer leiser wird, repetitiv genug, um völlig entmenschlicht und automatisiert zu wirken, und trotzdem so berührend, dass das Abendrot dieses Album wirklich zu einem fast kafkaesken Ende bringt. Es gibt kein Happy End, alles kommt, wie es kommen muss, und am Ende bleibt nichts. Und eine einzelne, simple, abseits klingelnde Melodie wird in Richtung Sonnenuntergang getragen.

Fazit: Von Naziverbrechen an Kommunisten über Mord unterm Riesenrad im Spreepark bis hin zur Atomkatastrophe in Tschernobyl erzählt dieses Album viele kleine einzelne Geschichten, die oft auch durch die Instrumentaltracks, die mehr als pure Lückenfüller sind, transportiert werden. Oft träumerisch, teilweise härter, meistens langsamer, besticht „Unaufhaltsam“ jedoch besonders durch Storytelling, Tiefgang und Vielfalt. Es wirkt teilweise wie ein Konzeptalbum, doch scheint es diverse Geschichten in sich zu vereinen. Konzeptalben sagt man allerdings auch oft nach, dass die einzelnen Songs nicht als für sich stehend überzeugen würden. Das kann man hier, wie ich finde, nicht behaupten. So funktioniert „Hotel Polissya“ als in sich geschlossene Geschichte, während „Nachtclub“ ein schöner EBM-Spaß ist und „John Schehr und Genossen“ auch als für sich stehender Song wirklich eindrucksvoll ist. Auch „Plänterwald“ soll hier noch einmal lobend hervorgehoben werden. Diese Platte lädt also dazu ein, sowohl mehrfach durchgehört zu werden, als auch zu einzelnen Songs wieder und wieder zurückzukehren. Egal, was von beidem man tut, es ist ein Genuss, der gleichsam nachdenklich stimmt und eine große Zufriedenheit erzeugt.

Tracklist:

01 Unverwundbar
02 John Schehr und Genossen
03 Plänterwald
04 Ostseekind
05 So kalt (feat. Dr. Mark Benecke)
06 Nachtclub
07 Weserbergland
08 Der Masterplan
09 Analoge Wellen
10 Hotel Polissya
11 Der Sarkophag
12 Im Abendrot

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VÖ: 05.07.2019
Genre: Electro
Label: Danse Macabre

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