Goethes Erben – Flüchtige Küsse (CD-Kritik)

Goethes ErbenOswald Henke dürfte mit seiner Musik wohl einige der ambitioniertesten und künstlerisch-lyrisch spannendsten Projekte in der deutschen Szene zusammentragen. Flüchtige Küsse ist als Kammerkonzert-Aufnahme eigentlich ein durch Corona verhindertes Live-Album, reiht sich aber fantastisch in die nach über drei Jahrzehnten sehr fleischige Diskogra- phie von Goethes Erben ein und macht von den ersten Sekunden kein Geheimnis daraus, dass uns hier eine sehr spannende Platte bevorsteht: Wehe mir! Der Heldenuntergang!“

Mit großen Worten, drängender Stimme und reduzierter Instrumentierung besticht diese Platte: Piano, Cello, Sprache heißen diese Instrumente, die uns vom ersten bis zum letzten Song begleiten. Dazwischen lassen Oswald Henke und Sebastian Boettcher viel Platz für die Texte, die so getragen sind von Schmerzen, Intensität und Emotion: „Manchmal geht es nur darum, das Leben auszuhalten (…) Man küsst, schlägt und schneidet sich und merkt: Am Ende fühle ich nichts (Aushalten).

Dieses Album übt sich in Langsamkeit, wirkt mehr wie eine Lesung mit musikalischer Begleitung, und gerade mit dieser Entschleunigung und vermeintlichen Knappheit schafft diese Platte ungeheuer viel Tiefe. Die Sehnsucht, die Dunkelheit, auch der Pathos dicken dieses spannende Projekt an, das den Fokus auf die Lyrik legt, wie man es nur selten hört. In diesen Texten findet man so viel Schönheit, spannende Metaphorik, und kluge Gedan- ken. Anders sein hat einen herzzerreißend wundervollen Refrain, und Ich habe mir die Liebe abgewöhnt ergänzt den Titel mit und bin doch süchtig.

Um ehrlich zu sprechen: Diese Zerrissenheit, diese große Trauer, der Verlust und auch der Selbsthass, den diese Platte zum Thema macht, hat mir an einigen Stellen die Sprache verschlagen. Oft passiert es mir beim Hören von Flüchtige Küsse, dass die Dramatik mich übermannt. Gelegentlich muss ich beim Hören Pausen machen besonders Zu wenig ist alles andere als leichte Kost. Zu sagen, dass dieses Album in Teilen nur schwer zu ertragen ist, ist hierbei kein negativer Kommentar und berichtet mehr von der schrecklichen Wirkung dieser hochemotionalen Texte und dem ungeheuer fantastischen Vortrag Oswald Henkes.

Entsprechend schwer fällt es, in Worte zu kleiden, was dieses Album auslöst, ohne mit einem Text zu enden, der den Rahmen einer CD-Kritik sprengen würde und eher dem Umfang einer Doktorarbeit entspräche. Besser als die Worte Henkes selbst kann niemand beschreiben, welche Stimmung diese Musik entfesselt. Schrecklich-schöne Zeilen wie Ein Abschiedskuss, der keiner ist, und unbewusst dann doch der letzte war“ prägen dieses Album, und all diese dunkle Romantik und Melancholie am Rand zur Depression schaffen einen so prägnanten Eindruck, dass man schreibend daran nur scheitern kann. Und dann sind da so kleine Momente wie auf Stumme Nächte, die das letzte Wort des Refrains einfach weglassen und den Song im Schwebezustand enden lassen, abrupt und aufrei- bend.

Auf den letzten Metern mutet Flüchtige Küsse dann noch politisch an, und hat einige sehr spannende Sachen zu sagen: Alte Männer wollen Macht, Männer wollen töten / Alte Männer lügen viel, die Welt ist voll von Nöten doch selbst das leidliche Thema Sozialkritik kann Oswald Henke aufbereiten, ohne dass es predigend, anstrengend oder phrasenhaft gelingt. Stattdessen platziert er geschickt ein paar gepfefferte Formulierungen, und als Abschlusssong liefert dieser Song das, was jedes gute Drama auch zeigt: Die Welt, in der sich die Geschichte spielt, und wie ihre Ungerechtigkeit, Brutalität und Machtbesessenheit sich auf die Handlung auswirkt.

Fazit: Mit einer Spielzeit von über einer Stunde lässt sich dieses Kammerkonzert definitiv seine Zeit, um den Hörer mit voller Wucht zu erwischen. Und das tut es nicht trotz, sondern gerade wegen der Reduktion, dieser rohen Direktheit und starken Emotionalität, dieser Schwere, dieser Finsternis, dieser Intensität in der Sprache von Oswald Henke. Es ist ein wirklich beeindruckendes Album geworden, das Goethes Erben vorlegen, so fantastisch, dass es schwer fällt, die wirklich richtigen Worte zu finden, um diesen Kloß im Hals, den das Hören von Flüchtige Küsse zu bereiten weiß, angemessen zu umschreiben. Ein Reinhören und Kaufen dieser Platte lohnt sich wirklich absolutes Gänsehautmaterial von hohem Wert, das sich für lange Zeit im Hirn der geneigten Konsumierenden festbeißen wird.

Tracklist:

01 Heldenuntergang
02 Wir alle suchen blind
03 Aushalten
04 Ich habe mir die Liebe abgewöhnt
05 Anders sein
06 Zu wenig
07 Seelenschatten
08 Stumme Nächte
09 Asche schreit
10 Ich bin der Zorn

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VÖ: 18.10.2020
Genre: Avantgarde
Label: Dryland

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