Frozen Plasma – Gezeiten (CD-Kritik)

Frozen PlasmaIst es verwegen, zu sagen, dass Frozen Plasma vielleicht eines der potentesten Electro-Pop-Projekte ist, die ich kenne? Diese beiden Herren haben einfach ein wunderbares Gefühl für durchdringende Melodien, können mit großartigen Klängen und Stimmharmonien überzeugen, und nachdem mich „Pakt“ eher als etwas egales Karaokeabend-Zwischenwerk irritierte, freue ich mich jetzt umso mehr, mich an frischem Material dieser Band laben zu dürfen.

„Gezeiten“ heißt die neue Platte, und das im Titel gemachte Versprechen halten Frozen Plasma, indem sie uns mit erfrischenden Songideen erfüllen und ihre Stärken spielen lassen. Sei es mit einer Nummer wie „Exit“, gespickt mit 80er-Referenzen und qualitativ durchaus auf einer Linie mit Hits wie „Earthling“. Oder aber man findet hier so großartige Nummern wie „Sailor“, das als Intro für diese Platte hervorragend funktioniert. Auf ganz eigene Weise fesselnd, einen Sog ausübend, spielt dieser Song herrlich mit Harmonien, die Felix Marc wunderbar in Szene setzen kann.

Wenn man, wie ich, aus Berlin kommt, denkt man bei dem Titel „Westend“ automatisch an Funkturm, Olympiastadion oder die Messe. Dass auf Track drei dieser Platte dann auch noch Sirenen zu hören sind, bekommen die Erzählungen vom nächtlichen Fahren zum Westende der Stadt eine gewisse Wahrhaftigkeit. Definitiv eine Nummer zum Hören beim nächtlichen Autofahren. Und wenn man zufällig eine Discokugel im Auto hat, kann man hier auch gleich die „Gefühlsmaschine“ abfeuern, die ein bisschen aggressiver und mit härteren Drums daherkommt.

„Another Girl“ entbehrt ebenfalls nicht eines gewissen Clubcharakters, gerät hier jedoch zunehmend technoid, hat fast schon leichte Rave-Anmutungen. Kein Zweifel: Hierzu lässt es sich voller Hingabe tanzen. Dicht, breit, und wahrscheinlich komplettiert durch Nebel- maschinen, Stroboskop-Licht und kühler Luft. „Rivers“ könnte fast als Ballade durchgehen, die atmosphärischen Pads und Marcs Gesang suggerieren das, doch der Song ist ähnlich groovy wie sein Vorgänger. Mit ordentlich Drive und einigen Claps kann man zu Zeilen wie „I surrender, finding strength in my defeat“ tatsächlich mit dem Kopf nicken.

Wenn man „Chameleon Love“ hört, ist das ein wenig der Effekt, den man auch erlebt, wenn man „Sleeper In Metropolis 3000“ hört. Man hat das Gefühl, hier sei ein Song, der in den Achtzigern ein Überhit war, modernisiert, neu eingespielt und geremixt worden. Die Nummer tanzt genau zwischen Retro und Modernität, und trifft den Punkt sehr genau, bis hin zur Textstruktur saugut konzipiert. Direkt darauf jedoch folgt mit „Badlands“ jedoch die wirkliche Ballade dieses Albums, die die Rückkehr eines alten Mannes in die alte Heimat beschreibt, die dieser jedoch in Schutt und Asche gelegt auffindet. Ein eigenartig verzerrtes Piano geleitet uns durch die erste Hälfte des Songs, ergänzt durch einige Atmos und Drums. Die Stimmung eines leichten Spuks liegt auf diesem Lied, ergänzt durch einen Hauch von Kapitulation.

Bevor das Tempo jedoch flöten geht, hauen uns Frozen Plasma direkt danach eine weitere fette Nummer mit ordentlich Atmosphäre und angekotzten Vocals um die Ohren, die Sounds machen ordentlich druck und hämmern gediegen dahin. „Safe. Dead. Harm.“ ist an einigen Stellen fast schon EBM, und macht gehörig Laune. Der Rhythmus sitzt, die Produktion ist lupenrein, und auch die Effektierung des Gesangs passt wie Faust aufs Auge auf diesen Track. „United we stand, and we fight ‘till the end“. Mit „Etmal“ folgt eine eher experimentelle Nummer, die sich nur sehr langsam aufbaut. Als „Etmal“ wird in der Seemannssprache der Zeitraum zwischen zwei Mittagen bezeichnet, beziehungsweise die in diesen vierundzwanzig Stunden zurückgelegte Strecke. Entsprechend lässt sich dieser Interlude Zeit für seine Progression und dient vor allem dem Setting dieser Platte.

Mit „Nautic“ hingegen geht es wieder auf den Dancefloor, wenn auch mit zunehmend kritischem Ton: „Deconstruct what lies within“, „All we can do is act in self-defense“. Der Refrain hingegen führt wiederum ein Erbe fort, das von Bands wie den Pet Shop Boys, Erasure oder den frühen Depeche Mode mitbereitet wurde. Eine weitere starke Nummer, die nicht nur den Hauptstrang von „Gezeiten“ beschließt, sondern der immerwährenden Aufbruchstimmung einen gewissen Pessimismus beizusteuern weiß. Als Epilog dient die Neuauflage des Songs „Almond Flowers“, ursprünglich aus dem Jahr 2009, der sich lyrisch als passende Ergänzung zum Narrativ des Albums erweist und vor allem instrumental als Outro alles richtig macht. „A perfect night to leave in silence, if you were here you would agree“ heißt es dort, bevor das Album mit Meeresrauschen und Donnergrollen schließlich verklingt.

Fazit: „Gezeiten“ schafft es, das im Titel versprochene Gefühl mit toller Musik umzusetzen. Nicht nur klingt die Musik wie zu erwarten fantastisch zusammengesetzt und produziert, sie trägt auch stets diese gewisse Schwere und Melancholie, die Tiefe des Meers, das sich Losmachen von Zwängen, die Flucht aus dem Stillstand, aber auch die Zerrissenheit zwischen Ebbe und Flut. Die musikalische Verkörperung des Meers, mal ruhig und mal reißend, tief, schwarz und weit, gelingt Frozen Plasma mit ihrem aktuellen Album ausge- sprochen ausgezeichnet. Es war nicht anders zu erwarten: „Gezeiten“ ist ein weiteres, sehr gutes Frozen Plasma-Album geworden, das einen großartigen Spannungsbogen besitzt und schlicht und ergreifend ungeheuer viel Freude beim Zuhören macht.

Tracklist:

01 Sailor
02 Exit
03 Westend
04 Gefühlsmaschine – Single Mix
05 Another Girl
06 Rivers
07 Chameleon Love
08 Badlands
09 Safe. Dead. Harm.
10 Etmal
11 Nautic
12 Almond Flowers 2020

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VÖ: 29. Mai 2020
Genre: Electro Pop
Label: Minuswelt (Soulfood)

Frozen Plasma im Web:

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