Welle: Erdball – Film, Funk und Fernsehen (CD-Kritik)

Welle: ErdballWelle: Erdball sind wieder auf Sendung, und zwar so richtig – die Minimal-Electro-Radiocrew schießt mit „Film, Funk und Fernsehen“ ein wahres Monstrum in den Äther, und erweitert ihr Medienimperium unter anderem mittels eines Hörspiel-Features mit prominenten Stimmen wie Steve Naghavi von And One oder Alex Wesselsky von Eisbrecher und viel, viel, viel Musik. Wenn ich sage, dass mir zur Review „nur“ zwei der vier CDs vorliegen, die diese Sendung bilden, reden wir immer noch von dreißig Tracks. Viel Arbeit und Zeit ist in dieses Projekt geflossen – die erste Auskopplung „Die Unsichtbaren“ erschien bereits vor drei Jahren. Hat es sich gelohnt?

„Einschalten zum letzten Bild: Maschinen rasen, das Telefon schellt / Alles jetzt zu seinem Ort; Hier ist Welle:Erdball – wer ist dort?“ Der Opener „Welle Erdball“ fungiert als atmosphä- rischer Jingle für das Bevorstehende, zahlreiche Referenzen an die Arbeit mit Studio- equipment und Krachmaschinen vermengen sich mit dem betörend plockernden Synthie zu einer mystischen Anbahnung, und man bekommt das Gefühl, als würden die Elektrogötter persönlich aus dichtem Nebel herausschreiten, um ihre Rückkehr zu verkünden und sich an die Arbeit zu machen. Und so falsch ist das wahrscheinlich auch gar nicht, oder?

„Drogenexzess im Musikexpress“ zeigt Welle: Erdball auf der Höhe ihres Könnens – diese Musik klingt wie der Soundtrack zu einem sehr actionreichen Nintendo Entertainment System-Spiel und gleichsam wie eine Popnummer zwischen den 70ern und 80ern – die Melodie hat fast einen ABBA-Einschlag, was nicht zuletzt dem Duettgesang von M.A. Peel und Lady Lila geschuldet ist. Spaßige Nummer mit Nerdfaktor und der bandeigenen Seltsamheit, die Themen wie das Nehmen vieler, vieler Drogen mit einem lustig-fröhlichen Instrumental verbinden. Auf „Das Original“ ersteht der frühe EBM wieder auf, mit zackigen Klopp-Synths und parolenartigem Text, der herrlich-selbstbeweihräuchernd und albern gerät und so schöne Zeilen wie „Meine Schuhe sind perfekt / Meine Kleidung sitzt perfekt / Hab mir die Haare hochgesteckt / Trink vorher noch ein Gläschen Sekt“ aufwartet.

Etwas trister wird es auf „Das Tor zur Wirklichkeit“: das bevorstehende, selbst herbeige- führte Schicksal der Menschheit wird hier mit Zeilen wie „Niemand rettet euch, es tut mir leid“ verhandelt, natürlich nicht ohne Erwähnung des Umstands, dass der Protagonist sich selbstverständlich um die Rettung der Menschheit bemüht hat. Bandtypisch lapidar wird das hier über schönen Retro-Synthpop abgehandelt, sodass man zu der Zeile „Die Menschheit ist zum Sterben verurteilt“ auch noch ausgezeichnet tanzen kann. Großes Kino – wir sind ja auch schließlich auf der CD „Film“. „Liebe gegen Leistung“ klingt dann wie DAF goes Atari 5200 und behandelt käuflichen Sex, als handle es sich hier um eine Radiowerbung – gleichzeitig wirkt die Verklausulierung und das Runterbrechung auf Slogans so klinisch-entmenschlicht, dass der Liebesakt hier etwas rein Maschinelles wird, ein Teleshopping-Produkt. Augenzwinkern und subtile Sozialkritik auf minimalistischen Beats.

„Der Weltuntergang ist nah – war der nicht gestern schon mal da?“ – „Dr. Mabuse“ ist nicht nur eine Reminiszenz an den gleichnamigen Superschurken, sondern gleichsam ein erstaunlich aktueller Track, in dem gleichmal die Pandemie, die Inflation und andere Schreckensszenarien der Gegenwart angezählt werden, um das Geschäft mit der Panik unter Beweis zu stellen: „Komm nun zu mir zurück und mach mir Angst“ – Sensationslust und Sucht nach Horror treiben, laut Welle: Erdball, die Gesellschaft, und die eigentliche Gefahr ist nicht die, der die Angst gilt, sondern die Angst davor. Dass ich dieser Ansicht nicht vollumfänglich zustimmen würde und mich als Freund der kritischen Vorsicht begreife, ändert nichts an der Tatsache, dass die transportierte Botschaft hier sehr klar und effizient verdichtet in wirklich gute Musik gegossen wird – der temporeiche Song macht wirklich großen Spaß und jede Zeile sitzt wie ein gerufenes Kommando, die Synths kreischen und drücken und es wird ordentlich Gummi gegeben. Mit „Mumien im Autokino“ finden wir einen bereits ausgekoppelten Song vor, der mit 80er-Serien-Intro-Charme spielt und zudem ein fantastisches Stück Minimal-Techno darstellt.

„Wendy, Walter und die Geschlechtsmaschine“ erzählt auf ein weiteres eine Geschichte zwischen Weltraumreisen und Texten, die in ihrer Taschenrechnerhaftigkeit und Fachjargon- jonglage etwas Unmenschliches, Maschinelles haben – es wird, Zitat, das Chromosom getanzt, über eine lupenreine „Speak & Spell“-Melodie geht es hier vor allem um Geschlechtsidentitäten jenseits der binären Wahrnehmung, gepaart mit einiger Cyborg-Ästhetik. „Ich habe in eine Zukunft gesehen“ kommt derweil ähnlich sehr spacy daher und verbindet eigenartig-ironische Dystopie mit „döp döp“-Vocal Samples. Die Kapitalismus-Kritik kommt dabei dann doch sehr plakativ daher, aber wahrscheinlich ist das der Sinn der Übung.

Zombie-Symbolik und überbetonte, die Erotik ad absurdum führende Sinnlichkeit sind die Themen von „Tote Frauen kommen leise“ – absolutes Highlight ist selbstverständlich die Zeile „Tote Frauen brauchen Liebe / Gebären sich nicht wie Alice Schwarzer“. Die herrliche Weltfremdheit gepaart mit andauernden Bezügen auf die Jetztzeit wird in diesem Song, musikalisch früher Synthpop, lyrisch fast schon Zwanzigerjahre-Schlager mit düsteren Twists. Es folgt mit „Die Unsichtbaren“ die mittlerweile drei Jahre alte Vorabsingle, die nach wie vor mit Minimal-Melodien und Tanzbarkeit auftrumpft.

„Diamanter“ ist eine schwedischsprachige Nummer, was erstaunlich gut funktioniert – die Rhythmik der Sprache geht runter wie Öl mit den Oldschool-Beats von Welle: Erdball. Es bleibt eingängig, verhaftet im Arcade-Vibe, vor dem inneren Auge schießen angedeutete Raumschiffe Punkte auf Punkte. Der angedeutete EBM samt gerolltem R gibt es auf „Mama, Papa, Zombie“ – die Melodie schreit And One, der Text und die Vocal Performance haucht Rammstein. Die pseudo-ominöse Nummer gespickt mit parodistisch-pathetischen Worten rund um den Genuss von Horrorfilmen im jungen Alter (ebenfalls so ein 80er-Thema) ruft uns die Sorgen harmloserer Zeiten wieder auf den Plan, und geht dabei ordentlich ins Ohr.

Ähnlich pathetisch wird es auf „Der letzte Mensch“ – „Das Leben kalt / Ich sterbe bald“ hat in dieser Absolutheit und gleichzeitigen Plattheit wieder einen gewissen Humor. Aber was macht dieser letzte Mensch? Selbstverständlich sendet er in den Äther – Welle: Erdball bleibt bis zum letzten Atemzug auf Sendung, wenn auch mit einem SOS. Es wird sich zünftig gegruselt, ohne dass der Schock je wirklich unter die Haut geht. Für Welle: Erdball-Verhältnisse kann dieser Song fast schon als Ballade durchgehen – im krassen Kontrast steht dazu „Re-Animation“, der fast schon Aggrotech-Züge hat. Honey schreit sich die Seele aus dem Leib, der Beat geht ab wie die wilde Luzi.

„Am Ende der Zeit“, beziehungsweise am Ende der ersten CD erwartet uns ein Outro, das gleichzeitig mit der großen Inszenierung der Epicness, die andere Bands gern nutzen, spielt (Vertrag mit Gott, alle Fehler sind gemacht, alles liegt offen, das Ende als Anfang) – aber eine Stelle wirkt fast schon wie ein Selbsteingeständnis: „Jeder Gedanke wurde ausgedacht.“ Am Ende von 16 Songs Welle: Erdball total beschleicht einen das Gefühl, dass man es jetzt auch verstanden. Retro-Sounds, Weltallfantasien und ein bisschen Grusel-Trash mit dezenter nackter Haut und ein wenig Blut und Zombies, alles macht einen Heidenspaß, ist aber auch irgendwann auserzählt. So passt dieser Song gut als Ende eines Albums und rechtfertigt hiermit durchaus seine Position in der Tracklist.

Zumindest wäre das so, wenn nicht noch weitere Stunden Welle: Erdball-Material bevor- stünden. CD 2, Funk, ist hierbei ein reines C=64-Album mit vierzehn weiteren Tracks – und eine reine Computerabsturz-Rave-Orgie, die klingt, als würde man sämtliche frühe Computer -Spiele auf einmal abspielen, bis es zu Techno wird. Hier einige der bemerkenswerten Nummern im Schnelldurchlauf: Das charmante „Space Oddity“-Cover klingt dabei, als hätte man die Programmier-AG einer Gesamtschule gezwungen, mal was zusammen mit dem Schulchor zu machen. Ein weiteres Highlight dieser zweiten CD ist „8BIT-Raumstation“ mit der Zeile „Trink mein grünes Blut“. Ähnlich viel Computerspiel-Romantik gibt es auf „Nerdfaktor42“ zu hören, samt Dudeludelu-Plöckelbeat und der Verherrlichung des PC-Raums mit Bildröhre und Klapper-Tastatur als Rückzugsort. Auch „Die 4,5 Min. des Ruhms“ ist eine sehr spaßige Nummer über das amerikanische Prinzip der Five Minutes of Fame, in dem vom bösen und verführerischen „Internetz“ die Rede ist, sowie vom kaufbaren Glück und der inneren Leere im gleichen Moment, über eine Melodie, die klingt, als hätte man gerade Prinzessin Peach aus dem Kabelwirrwarr eines Supercomputers in einem frühen Science-Fiction-Film gerettet.

Fazit: Diese Sendung von Welle: Erdball kommt in Super-Deluxe-XXL-Länge daher, ist dabei genauso charmant, aber auch aus Plastik, wie man es von der Band gewohnt wird – und vielleicht an einem gewissen Punkt auch ein My zu viel des Guten. „Film, Funk und Fernsehen“ ist ein staksender Overkill, und während es beeindruckend ist, dass Welle: Erdball ihre Symbolik, ihren Sound und ihre textliche Akrobatik im Stil von „Die Welt geht unter, trallala, wir alle sterben, hurra“ so konstant und nie wirklich durchhängend über die dreißig Songs, die vorliegen, erstrecken können, sitzt man doch als Hörer irgendwann da und denkt sich „Ja doch, ich habe verstanden.“ Das Schöne an Erinnerung ist, dass sie kondensiert und in kleinen Dosen daherkommt, man sich das Beste rauspicken und das Unschöne in der Reflexion geflissentlich ignorieren kann. Hier wird es aber so nostalgisch, dass sich alle Balken biegen. Welle: Erdball zu hören ist wie alte Science-Fiction-Filme zu schauen und sich daran zu erfreuen, wie sich Menschen in der Vergangenheit die Zukunft vorgestellt haben – gleichsam glorreich und verkorkst – aber von zu viel „Film, Funk & Fernsehen“ bekommt man am Ende dann vielleicht doch viereckige Augen. Das Kernalbum mit seinen stattlichen 16 Tracks allein ist wunderbar, aber auch auf Dauer dezent ermüdend. Welle: Erdball feuern hier aus allen Zylindern, das ist respektabel, zeugt von Fleiß und Hingabe, bewegt sich aber von der Kernidentität der Band nie weit genug weg, als dass es innovativ sein könnte. Auf dem Cover dieser Platte prangt ein Sticker, auf dem „Das Original“ steht. Nicht „Das Upgrade“. Alles an diesem Album ist gut, aber auch das Gute kann irgend- wann etwas zu viel werden.

CD1 (Film):
01 Welle Erdball
02 Drogenexzess im Musikexpress
03 Das Original
04 Das Tor zur Wirklichkeit (Cmdr. Laserstrahl)
05 Liebe gegen Leistung
06 Dr. Mabuse
07 Mumien im Autokino (Tax-5)
08 Wendy, Walter & die Geschlechtsmaschine
09 Ich habe in eine Zukunft gesehen
10 Tote Frauen kommen leise
11 Die Unsichtbaren
12 Diamanter (är en flickas bästa vän)
13 Mama, Papa, Zombie
14 Der letzte Mensch
15 Re-Animierung
16 Am Ende der Zeit

CD2 (Funk) (C=64):
01 Welle Erdball (C=64)
02 Wir sind elektronisch! (C=64)
03 Space Oddity (C=64≤)
04 Das letzte Hemd (Cmdr. Laserstrahl) (C=64≤)
05 8BIT-Raumstation (Cmdr. Laserstrahl) (C=64)
06 Das Atomboot (C=64)
07 Nur in meinem Traum (C=64)
08 Nerdfaktor42 (C=64)
09 Liebelei im Discolicht (C=64)
10 Die Wahrheit (C=64)
11 Film, Funk & Fernsehen (C=64)
12 Die 4,5 Min. des Ruhmes (C=64)
13 Spätfolgen im Autokino
14 D3r Tan2 d3s c0zmo5

CD3 (Das Hörspiel):
Nick Semloh – Die Mönche aus dem Geisterlabor
(mit allen Welle: Erdball-Moderatoren sowie And One, VNV Nation, Eisbrecher, Hertzinfarkt… als Sprecher!)

CD4 (Fernsehen):
01 Mumien im Autokino
02 Monster Mash
03 Na Zare
04 Das Einzige was zählt
05 Sentimental Moments
06 A New England

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VÖ: 07.10.2022
Genre: Minimal Electro
Label: Nexilis

Welle: Erdball im Web:

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